Kleider machen Leute - Kostümbilder erschaffen Charaktere. Interview mit der Kostümbildnerin Sabine Böbbis, Hamburg

Sie haben das Kostümbild für die TV-Produktion „Aufbruch“ (Regie: Hermine Huntgeburth, TAG/TRAUM Filmproduktion) entworfen. Von was handelt der Film?

Hilla Palm (Anna Fischer) in "Aufbruch".
© S.Böbbis/VGB+K

Böbbis: „Aufbruch“ basiert auf dem autobiografisch geprägten Roman der vielfach preisgekrönten Schriftstellerin und Lyrikerin Ulla Hahn. Chronologisch setzt der Fernsehfilm da an, wo der Zweiteiler „Teufelsbraten“ von 2006 aufhört.
Der Film beginnt in den 60er Jahren und erzählt den Werdegang der jungen Hilla Palm, die aus einfachsten Verhältnissen, als Tochter eines Arbeiters und einer Putzfrau, in einem streng katholischen Haushalt aufwächst. Ein ähnlicher Werdegang wie der ihrer Eltern scheint ihr vorherbestimmt. 

Doch damit will sich Hilla nicht abfinden, sie strebt Abitur und Studium an und wird hierbei auch vom örtlichen Pfarrer unterstützt. Sie verliebt sich in einen Fabrikantensohn, der ihr eine neue Welt eröffnet. Hilla ist hin- und hergerissen zwischen den Erwartungen an Sie, sowohl vom Elternhaus als auch von den Männern und einem selbstbestimmten Leben als Schriftstellerin.

Was war modisch unverzichtbar um die 60er bis 80er Jahre auferstehen zu lassen? Wie haben Sie das bei Hilla umgesetzt? 

Hilla im elterlichen Haushalt.
© S.Böbbis/VGB+K

Böbbis: Der Inhalt des Drehbuchs bewegt sich über eine sehr große Zeitspanne von 1963 bis ca. 1981. Wir jedoch bleiben nur in den 60ern und Anfang der 80er Jahre. Eine Modenschau über den Zeitraum von fast zwanzig Jahren hätte den Rahmen eines 90-Minüters gesprengt.

Die Geschichte spielt auf dem Land und in der Stadt. Hilla wächst in den 60ern auf dem Land auf, wo sich in der Kleidung noch viel aus den 50ern wiederfindet. Die Menschen sind einfach, die Kleidung wurde „aufgetragen“. Man hatte nicht die finanziellen Mittel für viel Garderobe, schon gar nicht für Mode.
Hillas Kleiderschrank ist eher übersichtlich und einfach. Gedeckte Farben, einfache Schnitte, wenig Kostümwechsel. Außer einer einfachen Emailbrosche, die ein Geschenk des verstorbenen Großvaters ist, trägt sie auch keinen Schmuck. Alles sehr unauffällig. So wie sie selbst auch. 

Ebenso bin ich mit den Kostümen der anderen Familienmitglieder vorgegangen. Auch hier ist die Kleidung sichtlich getragen. Es gibt ein Grundkostüm in vielen Lagen, das nur durch Weglassen des ein oder anderen Teiles verändert wird. Alles ist sehr einfach, manchmal geflickt, aber trotzdem ordentlich. Der fromme Schein der streng katholischen Gesellschaft wird gewahrt. 

Dann gibt es die wohlhabendere Wirtschaftswunderschicht der Adenauerzeit in der Stadt, auf dem Gymnasium, welches Hilla dann besucht. Die Mehrzahl der Schüler trägt modische Kleidung im Stile des jungen Horst Buchholz und der ganz jungen Romy Schneider. Die Anzüge sind steif, den Kleidern fehlt noch der letzte internationale Schliff. Die Mädchen tragen Make Up und Schmuck. Man zeigt was man hat - allerdings immer noch sehr gemäßigt im Vergleich zu Paris oder London. Alles ist sehr adrett und sehr korrekt. Deutschland steckte da schon noch im Korsett in der Begrenztheit der Adenauerzeit.

Einfach und ordentlich:
die Kleidung der Familie, hier Hillas Vater
(Ulrich Noethen).
© S.Böbbis/VGB+K
Die Kleidung distanziert den
Fabrikantensohn Godehard (Daniel Sträßer)
von Hillas Umfeld.
© S.Böbbis/VGB+K
Hilla verändert sich in der Stadt.
© S.Böbbis/VGB+K

Kleidung besitzt eine ganz eigene Zeichensprache und erzählt auch ohne Hintergrundinformationen etwas über die Person. Gibt es dafür allgemeingültige Rezepte oder heißt es beobachten? 

Böbbis: Selbstverständlich erzählt die Kleidung über Menschen. Kleider machen Leute - oder eben auch nicht…

Es ist ja  auch keiner von uns von dem Vorurteil befreit, einen Menschen nicht nach seiner "Verpackung" zu beurteilen. Das geschieht ganz automatisch. Damit lässt sich im Kostümbild natürlich sehr schön spielen. Man versucht nicht nur einen besonderen Charakter zu formen, sondern ihm oder ihr natürlich gerade durch die Kleidung einen gesellschaftlichen Stand, einen besonderen Tick, eine Eigenart  zuzuordnen.

Gute Recherche ist das A und O. Das ist das Fundament für die Erstellung eines Kostümes, egal ob historisch oder zeitgenössisch. Bibliotheken, Museen und private Fotoarchive machen das ganze zu einer spannenden Jagd. Unabhängig von einer bestimmten Vorbereitung beobachtet man auch sein alltägliches Umfeld sehr aufmerksam.
Beispielsweise die Kombination von Jeans und Turnschuhen, die zu einer Art Weltuniform für Alt und Jung geworden ist. Abgesehen davon, dass dieses Ensemble wenig kreativ und sehr allgemeingültig ist, beeinflussen die Schuhe auch den Gang und den Ausdruck der Träger, beobachten Sie das mal. Zudem ist das Jeansblau im Kostümbild eine sehr dominante Farbe, finde ich. Ich verzichte zum Beispiel bewusst auf Jeans und Turnschuhe.
Natürlich gibt es allgemeingültige Dinge, Berufsbekleidung beispielsweise. Aber auch diese Kostüme kann und sollte man personifizieren. Man hat immer noch die künstlerische Freiheit, sich selbst in die Gestaltung einzubringen. Ich bin der Meinung, dass nicht immer alles nach einer Kostümdokumentation aussehen muss. Wir erschaffen Kunstwelten, da muss auch die eine oder andere Struktur aufgebrochen werden.

Saloonladies, "Die Abenteuer des Huck Finn" (2011)
© S.Böbbis/VGB+K

Es soll nicht immer alles neu aussehen. Auf was achten Sie beim Patinieren? 

Das Kleid von Huck Finn.
"Die Abenteuer des Huck Finn" (2011)
© S.Böbbis/VGB+K

Böbbis: Patina! Ganz großes Thema! Zum Glück sind die Zeiten vorbei, als in Filmen alle aussah wie ein abgefilmter Katalog. Kleidung lebt an und mit dem Menschen, hat Gebrauchspuren. Das kann und soll man sehen, damit das Kostüm eine Selbstverständlichkeit bekommt. Hier geht die Spanne von ein paar Knittern im Sakko bis zum zerfetzten Kleid. Bei den Kostümen von Aufbruch verschwindet die Patina zum Beispiel so sehr, dass sie selbstverständlich wirkt. Andererseits mussten wir zum Teil auch noch mehr Ordnung reinbringen. Das gehörte in die Zeit, Blusen und Hemden bügeln und stärken, Anzughosen mit Bügelfalten versehen.

Ich finde es immer sehr spannend wie man eine Figur in sein Kostüm wachsen lassen kann. Ein neues Kleidungsstück oder ein paar Schuhe bekommen die individuellen Tragefalten des Körpers seines Trägers. So wächst das Kostüm an den Schauspieler und die beiden ursprünglichen Fremdkörper werden zu einer neuen Figur. 

Das bekommen die Patineure und Färber durch aufwendigstes Bearbeiten in die richtige Form. Das ist gar nicht so einfach. Unter meinen Patineuren befinden sich Leute von der Kunstakademie, also ausgebildete Kunstmaler, die mit geübtem Blick und viel Raffinesse Erstaunliches erschaffen. Das Kleid von Huck Finn wurde in dreifacher Ausführung alleine 14 Tage bearbeitet, mit dem Pinsel wurden immer wieder neue Schichten aufgetragen. Im Idealfall werden die Stoffe und das Leder schon im Vorfeld bearbeitet und dann dem Schauspieler angepasst. Ein Kleidungsstück sitzt bei jedem anders, jeder trägt es anders ab. Darauf gehen wir besonders ein.

Michael Gwisdek, Anprobe
"Die Abenteuer des Huck Finn" (2011)
© S.Böbbis/VGB+K
Michael Gwisdek, Set
"Die Abenteuer des Huck Finn" (2011)
© S.Böbbis/VGB+K
Recherchefoto Internet
August Diehl
"Die Abenteuer des Huck Finn" (2011)
© S.Böbbis/VGB+K

Was war bei „Aufbruch“ eine besondere Herausforderung?

Böbbis: Die größte Herausforderung bei "Aufbruch" war die Kostüme aus den 60ern und 80ern in sehr großen Mengen zu bekommen. Zu der Zeit, als wir in die Vorbereitung gingen, wurden einige Filme aus der gleichen Zeit gedreht, so dass die Fundi ziemlich abgegrast waren. Wir benötigten ja in erster Linie Alltagskleidung für große Komparsenzahlen und das war sehr schwierig.
Des weiteren war die Vorbereitungszeit knapp bemessen und wir hatten einen eher überschaubaren Kostüm-Etat. Das machte die Sache zusätzlich sportlich!

Wir wurden dann in diversen Privatsammlungen fündig. Ein wahrer Schatz für uns war zum Beispiel das Lager eines ehemaligen Uhrmachers aus Bochum mit originaler Ware aus unseren Jahrzehnten – inklusive noch in DM ausgeschriebener Preisschilder. Meine Assistentin und ich waren wieder einmal Jäger und Sammler. Wir haben Flohmärkte, Second Hand Läden, Keller und Speicher geplündert.

Es geht nicht nur darum was man trägt, sondern wie man es trägt. Gehört entsprechendes Coachen auch schon mal zu Ihren Aufgaben?

"Aufbruch" (2016), Anprobe
© S.Böbbis/VGB+K

Böbbis: Gerade bei historischen Kostümen muss man oft ein wenig Nachhilfe geben. Nicht allein dabei wie man bestimmte Kleidung anzieht, sondern auch, wie man sich in ihr bewegt.

Amüsant war, da wir ja aus Hillas Umfeld viele junge Leute unter den Schauspielern und Komparsen hatten, dass man bei den Damen und Herren der Generation Turnschuh beobachten konnte, wie sie sich zum Teil schwer taten in Schnürschuhen oder Pumps zu laufen. Viele haben das noch nie in ihrem Leben gemacht. Da haben wir auch gezeigt wie man Hut und Tasche trägt. Oder wie man sich am besten in enganliegende Kleider zwängt, die alten Kostüme haben ja ganz andere Passformen. Es ist schon ein anderes Gefühl Bleistifthosen zu tragen als Jeans oder Jogginghosen.

Bei längeren Anproben "wuchsen" die Darsteller und Komparsen dann in die Kostüme rein und bewegten sich zum Schluss ganz anders als in ihren Privatklamotten. Das ist immer eine schöne Beobachtung.

Was ist das Spannende am Kostümbild für den Film gegenüber der Modebranche? 

Böbbis: Ich würde das Kostümbild grundsätzlich nicht mit der Modebranche vergleichen. Mode ist ein Hilfsmittel für das Kostümbild. Mode ist unverzichtbar, aber das Kostümbild unterliegt keinem Modediktat. 

Manchmal arbeiten wir explizit mit dem dekorativen Aspekt der Mode, es kommt darauf an was gewünscht wird. Beim Kostümbild geht es aber nicht um Klamottenkauf oder mal eben was Schönes shoppen. Es gilt einen Charakter zu schaffen. Eine Figur durch Kleidung zu formen, so dass sie in die vorgegebene Epoche, Gesellschaft und Umgebung passt.
Um jedoch ein Gesamtbild zu erschaffen ist engste Zusammenarbeit mit den Kollegen der Ausstattung, Maske und Regie grundlegend. 

Das Kostüm hilft dem Schauspieler in seine Rolle, in seine Figur, die er verkörpern soll. Das ist etwas, das in der Außenwirkung eines Films oft unterschätzt wird. Ich sehe mich als Kostümbildnerin wie einen "Schuhanzieher" für den Schauspieler, dem ich mit Hilfe des Kostüms in seine Rolle verhelfe.

Arbeitsplätze. Was war nochmal gleich ein Büro?
© S.Böbbis/VGB+K

Lassen Sie sich bei einem Gang durch den Fundus inspirieren oder wissen Sie schon genau was Sie suchen?

Böbbis: Beim Lesen des Buches und der dazugehörigen Romanvorlage - wie in unserem Fall - und den vielen Vorgesprächen, die man in der Zeit der Recherche und Vorbereitung führt, bekommt man eine Idee von der Figur, die man gestalten möchte. 

Ich habe dann schon so ungefähre Vorstellungen, von dem was ich suche. Dabei wird natürlich der Gang durch den Fundus noch einmal zur Inspirationsquelle und eventuell wirft man eine Idee wieder um, weil man etwas neues Anderes entdeckt hat.

"Die Abenteuer des Huck Finn" (2011)
© S.Böbbis/VGB+K

Was macht ein gutes Kostümbild aus?

Böbbis: Kostümbilder schaffen Figuren und erzählen mit Kleidung Geschichten. Egal ob zeitgenössische, historische, futuristische oder Phantasiegeschichten: Das Kostüm formt einen Charakter.

Ein Kostümbild sollte den Darstellern helfen in die Rolle zu finden, sie dabei bekleidungstechnisch unterstützen und letztendlich auch dem Zuschauer eine Hilfe zur Erklärung der Rolle sein. Es geht zum Beispiel nicht darum, was die Darsteller gerne privat tragen, sondern was die Anforderungen der Regie, des Drehbuchs, der zu erzählenden Geschichte sind.

Was machen die Kollegen des Szenenbildes, mit welchen Farben arbeiten sie? Paradebeispiel rotes Kleid auf rotem Sofa, keine gute Idee - es sei denn das Drehbuch fordert genau solche Bilder. Aber auch dafür gibt es keine Pauschale. Manchmal erfordert es genau so etwas - dass das Kostüm laut und auffällig ist.


Über Sabine Böbbis

Foto: Ui Grohs/VG Bild Kunst

Sabine Böbbis pendelt zwischen Hamburg und Köln. Sie begann ihre Laufbahn an der FOS Gestaltung. Es folgten Hospitanzen im Bereich Bühnenbild an der Oper Köln (D.Rose), der Fotografie (H. Schmeck) und als Gewandmeisterin an der Oper Köln (Hr. Fettes). Von 1985-1990 führte sie ein Atelier mit dem Schwerpunkt Bühnengarderobe für die Musikindustrie in Köln. Seit 1990 arbeitet sie als Kostümbildnerin für den Film und entwarf das Kostümbild für zahlreiche TV- und Kinofilmproduktionen, unter anderem für: 

1995 Kino, I love you  I love you not, R.: Billy Hopkins

1999 Kino, Max Goodmans Last Film, R.: Stefan Lacant

2005 Kino, Schwesterherz, R.: Ed Herzog

2010 TV, Neue Vahr Süd, R.: H. Huntgeburth

2010 Kino, Tom Sawyer, R.: H. Huntgeburth

2011 Kino, Die Abenteuer des Huck Finn,  R.: H. Huntgeburth

2013 TV, Männertreu,  R.: H. Huntgeburth

2014 Kino, Axel der Held,  R.: H. Hölzemann

2015 TV, Tatort. Die Geschichte des bösen Friederich, R.: H. Huntgeburth

2015 TV, Aufbruch, R.: H. Huntgeburth

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